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10 Episode: Lisa Morgenstern // Musik und Film

Komponieren mit Stift und Papier

Lisa Morgenstern ist Pianistin, Sängerin, Komponistin. Sie schreibt Filmmusik für erfolgreiche Serien und erschafft komplexe Klangwelten. Viele ihrer wundervollen Ideen hält sie fest mit Stift und Papier

Frau Morgenstern, schreiben Sie bei all den elektronischen Geräten um Sie herum noch per Hand?

Ständig. Für mich ist das Schreiben mit der Hand ein essenzieller Teil meines Denkens. To-Do-Listen, Mitschriften, musikalische Ideen – ich habe immer ein Notizbuch bei mir. Das Schreiben ist ein Weg, meine Gedanken zu ordnen und ein kreativer Prozess an sich. Besonders beim Komponieren nutze ich am Anfang fast immer handschriftliche Skizzen.

Was schreiben Sie auf?

Ich habe über die Jahre eine Art Eigennotationssystem entwickelt: Zum Beispiel schreibe ich manchmal nur die Buchstaben der Noten und zeichne darüber Linien, um den Verlauf einer Melodie zu skizzieren. Oder ich schreibe einen Liedtext auf, zeichne Melodiebögen unter die einzelnen Silben. Manchmal kritzle ich auch einfach nur Zeichen und Linien, die die Struktur eines Stücks vorgeben. Das sieht für andere vermutlich komplett chaotisch aus, aber für mich steckt eine Logik dahinter.

Warum greifen Sie nicht zu digitalen Tools?

Ich arbeite digital, vor allem wenn ich die Ideen ausarbeite. Aber alles beginnt auf dem Papier. Beim Schreiben mit der Hand entsteht eine direkte Verbindung zwischen meiner Intuition und dem Papier. Es fühlt sich an, als würde ich eine Idee in den Raum setzen – sie erhält eine Existenz außerhalb meines Kopfes. Und: Dadurch, dass ich meine Ideen nur grob notiere, bleibe ich gedanklich flexibel. Wenn ich eine Skizze nach ein paar Tagen wieder zur Hand nehme, setzen sich die Bögen und Linien in meinem Kopf vielleicht ein bisschen anders zusammen. Das ist bei digitalen Notizen anders, die sind starrer. Gleichzeitig können die endlosen Möglichkeiten des Computers die Kreativität lähmen.

„Als gäbe es eine Verbindung zwischen Gehirn und Hand, die dafür sorgt, dass, was man niedergeschrieben hat, im Unterbewusstsein weiterarbeitet.“

Zu viel Auswahl?

Am Computer habe ich jedes Instrument der Welt per Tastendruck parat. Da verliert man schnell das Wesentliche aus dem Blick. Also lege ich mir bewusst Beschränkungen auf, setze Regeln. Zum Beispiel, dass ich eine Sequenz nur in einem vorgegebenen visuellen Muster von Achtelnoten weiterentwickeln darf oder bei jedem neuen Abschnitt sich nur eine Note ändern darf. Klingt streng, gibt mir aber eine logische Struktur.

Und es klingt nach Mathematik.

Musik und Mathematik liegen nah beieinander. In der Schulzeit wachte ich manchmal nachts auf, weil mir plötzlich die Lösung für eine Matheaufgabe einfiel. Das passiert mir immer noch mit der Musik – aber nur wenn ich vorher etwas mit der Hand aufgeschrieben habe. Als gäbe es eine Verbindung zwischen Gehirn und Hand, die dafür sorgt, dass was man niedergeschrieben hat, im Unterbewusstsein weiterarbeitet.

Sie haben die Filmmusik für die „Die Kaiserin“ komponiert. Wie nutzen Sie handschriftliche Notizen in dem Bereich?

Filmmusik ist extrem komplex. Wir hatten für „Die Kaiserin“ teilweise siebenstündige Meetings, da fließt eine riesige Menge an Information. Meine Notizen helfen mir, was gesprochen wird festzuhalten, aber auch den Subtext. Gerade bei Musik geht es um Nuancen. Wenn jemand sagt, „die Szene braucht mehr Spannung“, kann das alles Mögliche bedeuten. In meiner Mitschrift stehen nicht nur die Worte, sondern auch kleine Markierungen. Mir hilft auch, wie ich etwas aufgeschrieben habe: War ich in Eile? Habe ich etwas zwischen die Zeilen gequetscht? Das gibt mir einen zusätzlichen Anhaltspunkt.

„Ich habe oft erlebt, dass ich Jahre später in ein altes Notizbuch schaue und eine Idee entdecke, die ich damals nicht weiterverfolgt habe. Und plötzlich ergibt sie Sinn.“

Für „Die Kaiserin“ schreiben Sie für große Orchester. Bei Ihrer eigenen Musik arbeiten Sie viel mit elektronischen Klangerzeugern. Arrangieren Sie auch hier mit Stift und Papier?

Interessante Frage. Ich zeichne nicht einfach so zum Vergnügen und produziere dabei eigene Arbeiten. Ich brauche immer einen Auftrag, an den ich mich setze. Und dann macht es mir sehr viel Freude. Meine Arbeit hat immer damit zu tun, ein Gleichgewicht zwischen Bild und Schrift zu finden. Ich mag es, wenn sich Worte und Bilder miteinander verbinden.

Benutzen Sie bei Ihren Live-Auftritten auch Notizen?

Ja, gerade bei Konzerten mit Synthesizern. Regler drehen, Patchkabel umstecken, Effekte aktivieren: Es sind so viele kleine Handgriffe nötig, dass ich mir eine Art Spickzettel mache; der ist voller Zeichnungen, Symbole und Wellen.

Was passiert mit Ihren Notizbüchern, wenn sie voll sind?

Ich bewahre sie alle auf, sie sind mein persönliches Archiv. Ich habe oft erlebt, dass ich Jahre später in ein altes Notizbuch schaue und eine Idee entdecke, die ich damals nicht weiterverfolgt habe. Und plötzlich ergibt sie Sinn.

Lisa Morgenstern

Lisa Morgenstern ist eine deutsch-bulgarische Komponistin, Sängerin, Pianistin und Synthesizer-Enthusiastin. Mit dem Album „Chameleon“, das sie in Eigenregie veröffentlichte, erlangte sie 2019 erstmals internationale Aufmerksamkeit. Mit ihren eindrucksvollen Live-Performances trat sie in ganz Europa auf und eröffnete für Künstler wie Ólafur Arnalds und Max Cooper. Morgenstern spielte bei Festivals wie dem SXSW in Austin, Texas, dem Iceland Airwaves in Reykjavík und in Konzerthäusern wie der Berliner Philharmonie oder Elbphilharmonie Hamburg. 

Lisa Morgenstern schrieb die Filmmusik für die Netflix-Serie „Die Kaiserin“ („The Empress“), die 2023 mit einem Emmy ausgezeichnet wurde. Auch für die zweite Staffel schrieb und arrangierte Morgenstern die Musik, in der sie als Sängerin und Pianistin zu hören ist; die Aufnahmen mit dem Reykjavík Orchester fanden unter ihrer Leitung statt. Zudem sind vermehrt Studio-Kollaborationen mit Künstlern wie Casper, Balmorhea und Aukai entstanden. Lisa Morgenstern lebt und arbeitet in Berlin.


Autor Tilman Mühlenberg

Tilman Mühlenberg ist Autor, Übersetzer und Musiker. Er schreibt hauptsächlich über Kunst und Musik für Galerien, Verlage und Labels. Er hat als Musiker und Produzent diverse Tonträger herausgebracht. Mühlenberg lebt in Berlin-Köpenick.

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Steffen Mumm ist Künstler. Er arbeitet mit Leinwänden, Sprühdosen und Druckplatten. Er stellt Siegelringe, Socken und Seidentücher her, liebt Bullet Journals, Skizzenbücher und Notizbücher. Alles, was er zeichnet, malt und produziert, schreibt er vorher auf. Irre? Nein, kreativ!

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