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9 Episode: Neil Gower // Illustration und Typografie

Die Freude des Zeichners

Neil Gower ist international gefragter Illustrator von Büchern und Karten. Er begann im Alter von acht Jahren zu zeichnen. Seitdem hat er nicht mehr damit aufgehört

Herr Gower, wie lange nutzen Sie schon Stift und Papier?

Solange ich denken kann. Als Kind habe ich oft so getan, als sei ich krank, bin zuhause geblieben und habe Landkarten kopiert, Geldscheine nachgezeichnet. Das hat mir so große Freude bereitet, dass meine Mutter sich irgendwann Sorgen um mich gemacht hat.

Wie groß war denn die Freude?

(Lacht) Wenn bestimmte Dinge auf dem Papier passierten, wenn eine bestimmte Kombination von Farben oder Linien auf dem Papier auftauchten, erlebte ich ein Gefühl in der Mitte meines Körpers. Ich beschreibe es immer so, dass es mein Becken zum Summen brachte. Damals war ich acht Jahre alt, es war also offensichtlich nicht sexuell, aber es war definitiv eine körperliche Erfahrung, eine Art Rauschen.

Besteht das Hochgefühl weiterhin?

Ja, das Großartige ist, es passiert noch immer, bestimmt einmal die Woche.

Was für ein Privileg!

Absolut. Es ist herrlich, so zu arbeiten. Ich dachte immer, ich würde das so lange machen, bis ich einen richtigen Job habe. Viele Jahre fühlte es sich wie ein Scherz an, der sich selbstständig gemacht hat.

Wann wurde Ihnen bewusst, dass Zeichnen Ihr Beruf werden könnte?

Ich bin noch nicht richtig davon überzeugt. Okay, habe ich mit dem Zeichnen meinen Lebensunterhalt bestritten, Kinder großgezogen, ein Haus gekauft, den Kredit abbezahlt.

„Ich liebe den Moment, wenn die Farbe aufs Papier trifft. Ich liebe es, den Widerstand des Papiers zu spüren. Es ist ein sehr taktiles, physisches Erlebnis.“

Wie würden Sie Ihre Arbeit beschreiben?

Ich fühle mich, als wäre ich in eine Spalte zwischen der Welt der Illustration und des Grafikdesigns gefallen. Kurz nach meinem Abschluss an der Kunsthochschule im Jahr 1984 wurde ich freiberuflicher grafischer Künstler, so bezeichne ich mich noch immer. Meine Abläufe haben sich seitdem nicht verändert. Es beginnt mit einem Notizbuch und entwickelt sich zu dem Zeug, das Sie hier herumliegen sehen.

Zeichnen Sie, weil Sie müssen? Oder weil Sie es wollen?

Interessante Frage. Ich zeichne nicht einfach so zum Vergnügen und produziere dabei eigene Arbeiten. Ich brauche immer einen Auftrag, an den ich mich setze. Und dann macht es mir sehr viel Freude. Meine Arbeit hat immer damit zu tun, ein Gleichgewicht zwischen Bild und Schrift zu finden. Ich mag es, wenn sich Worte und Bilder miteinander verbinden.

Wie sieht Ihr Ablauf aus? Wie arbeiten Sie?

Nun, ich erhalte einen Auftrag, heutzutage meist per E-Mail, oder jemand fragt über meine Website an. Sobald wir uns auf ein Honorar und eine Frist geeinigt haben, beginnt das Projekt mit und in Notizbüchern. Ich fange an, Miniaturskizzen zu zeichnen, immer und immer wieder, Seite für Seite. Die Wiederholungen sind Teil des Prozesses. Sobald Sie dasselbe zweimal zeichnen, sogar in diesem Maßstab, entstehen subtile Variationen, kleine Fortschritte, ohne dass man zu viel nachdenkt. Am Ende nimmt man das, was am besten sitzt.

„Als Kind habe ich oft so getan, als wäre ich krank, bin zuhause geblieben und habe Landkarten kopiert, Geldscheine nachgezeichnet.“

Wollten Sie schon mal aufs Tablet umsteigen?

Es gab mal einen Moment, ich glaube in den 1990er Jahren, da dachte ich, ich müsste was verändern. Aber ich wusste auch, dass es nichts für mich ist. Ich liebe einfach das Gefühl, Bleistift und Pinsel in der Hand zu halten. Ich liebe den Moment, wenn die Farbe aufs Papier trifft. Ich liebe es, den Widerstand des Papiers zu spüren. Es ist ein sehr taktiles, physisches Erlebnis. Aber, und das ist mir wichtig, ich finde meine Arbeitsweise in keiner Weise überlegen zu digitaler Arbeit.

Viele Illustratoren bevorzugen den praktischen Nutzen von Tablets.

Und aus demselben Grund bevorzuge ich Papier. Ich liebe es, im Voraus denken zu müssen. Sehen Sie, das Physische von Stift und Papier gibt Ihnen ein bestimmtes Erlebnis, es gibt Rückmeldung – aber in erster Linie müssen Sie bei Papier weit vorausdenken. Man kann nicht einfach eine Farbe wegnehmen, zwischen Schichten wechseln oder etwas rückgängig machen. Beim Malen arbeiten Sie von hell nach dunkel, bauen langsam auf, Schicht für Schicht. Und dann hofft man auf das Hochgefühl beim Auftrag des letzten Farbtons.

Neben dem Zeichnen und Malen schreiben Sie Tagebücher und Gedichte. Beides mit der Hand?

Alle Designer in unseren Teams haben immer zuerst Handzeichnungen erstellt.

Ihre Karriere dauert nun schon mehr als 40 Jahre an. Denken Sie schon an den Ruhestand?

Ich könnte, aber warum sollte ich? Jetzt, da meine Kinder erwachsen sind, stehe ich natürlich weniger unter dem Druck, viel Geld zu verdienen. Aber wenn man nicht unter Druck steht, Geld zu verdienen, verdient man plötzlich mehr Geld.

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Ich glaube, das passiert einfach, wenn man etwas tut, das man liebt. Wenn man jung ist, nimmt man jeden Job an, um Geld zu verdienen. Für manche Jobs hat man eine Begabung, für andere weniger. Aber dann erregen die Jobs, für die man besser geeignet ist, Aufmerksamkeit. Und was gut gemacht ist, bringt mehr Arbeit. Es ist eine natürliche Gravitationskraft, die sie zu ihren Stärken zieht. Wenn man das, was man gerne macht, lange genug macht, wird man tiefer und tiefer in sein Gebiet wachsen, man seine Fertigkeiten ausbilden und irgendwann unvorhergesehene Stärken. Jedenfalls war das so bei mir.

Und auf dem Weg dorthin wird man sich gut fühlen.

(Lacht) Ja, man wird ein Hochgefühl erleben, ein-, zweimal die Woche.

Neil Gower

Neil Gower ist ein international gefragter Künstler und Illustrator, der vor allem für seine Buchumschläge (Bill Bryson, William Golding) und seine literarische Kartografie (Kazuo Ishiguro, Jilly Cooper, Simon Armitage) bekannt ist. Seine Arbeiten wurden in Europa und den USA veröffentlicht, unter anderem in Zeitschriften wie The New Yorker, The Economist und Vanity Fair. Er war 10 Jahre lang Contributing Artist bei Conde Nast Traveler in New York. 2017 illustrierte er As Kingfishers Catch Fire, eine literarische Ornithologie, die er zusammen mit Alex Preston herausgab. Sein erster Gedichtband Meet Me in Palermo wurde kürzlich von The Frogmore Press veröffentlicht. Er wurde in Wales geboren und lebt heute in Lewes, im Süden Englands und in Berlin.


Autor Ralf Grauel

Ralf Grauel ist Wirtschaftsjournalist, Publizist und Berater. Er war Redakteur und Autor für brand eins, brand eins Wissen und das Zeit Magazin. Zusammen mit seinem Team von Journalistenkollegen hat er das Projekt Writers and Thinkers entwickelt, bei dem er regelmäßig Gespräche mit Menschen führt über das Denken mit der Hand.

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